So lebten die Menschen in Gladbach und Rheydt

Wenn Karl Boland über Geschichte erzählt, dann funkeln seine Augen. Nichts scheint spannender zu sein, als eine Bibliothek zu besuchen und dort das fehlende Puzzleteilchen für die aufgestellte These zu finden. Karl Boland und Hans Schürings sind die Köpfe der Mönchengladbacher Geschichtswerkstatt. Seit fast zehn Jahren widmen die beiden Pensionäre ihre Freizeit der Stadtgeschichte, immer mit dem Blick auf besondere Themen und Bereiche. „In Mönchengladbach und Rheydt kann man deutsche Geschichte unter Laborbedingungen studieren“, erklärt Karl Boland. Aktuell beschäftigt er sich mit der Inflation und ihrem hundertjährigen Jubiläum, so der Historiker. „1923 stand Deutschland am Abgrund, es brannte an allen Ecken und die Menschen waren unruhig“, berichtet Boland weiter. Das führte dazu, dass es zu Demonstrationen und Plünderungen kam. Der damalige Oberbürgermeister von Rheydt, Oskar Graemer, musste im Sommer 1923 den Marktbeschickern behördlichen Schutz zusichern, damit sie in Ruhe ihre Waren anbieten konnten, ohne überfallen zu werden. Sogar ein sogenannter „Deutscher Oktober“ sollte in Mönchengladbach realisiert werden, schildert Boland weiter und verspricht für 2023 weitere spannende Details aus Mönchengladbach und Rheydt zu 100 Jahren Inflation.


Bei einem weiteren Rückblick auf die Zeitgeschichte der Stadt wird auch deutlich, dass Missstände angepackt wurden – allerdings nicht von den Verantwortlichen der Stadt, sondern von Privatleuten, hebt Boland hervor. Das waren Unternehmer wie Franz Brandts und Unternehmerinnen wie Louise Geury, die bis heute eng mit dem Namen der Stadt verbunden sind. Franz Brandts sorgte erstmals dafür, dass die Arbeiter seiner Textilfabrik ein Mitbestimmungsrecht bekamen. Louise Geury hat einen Großteil ihres Vermögens der Stadt vermacht zur Errichtung einer Lungenheilstätte, die bis heute bekannte „Hardterwald-Klinik“. Die Lungenkrankheit Tuberkulose war eine Folge der hohen Textilproduktion im 19. Jahrhundert und da in den Fabriken häufig Frauen arbeiteten, kam es zu einem weiteren Problem, das besonders in Mönchengladbach auftrat. „Im Hitzesommer 1911 starben fast 400 Säuglinge“, beziffert Karl Boland seine Rechercheergebnisse. Die arbeitenden Mütter wussten damals nicht, wie sie die Säuglinge ernähren sollten, ohne ihren Job aufzugeben. Also gaben sie ihre Kinder zu Verwandten und Bekannten, wo diese häufig verdorbene Milch tranken. Das war die Ursache für das hohe Säuglingssterben.

„Herausgefunden hatte das Marie Baum, die endlose empirische Untersuchungen anstellte und schließlich auf die verdorbene Milch stieß“, fasst Karl Boland zusammen. Ihr sei es dann schließlich zu verdanken, dass in Mönchengladbach eine Milchanstalt geschaffen wurde, die dafür sorgte, die Milch vom Bauern zum Labor zu bringen und dann mit ausreichender Kühlung wieder an die Mütter lieferte. Begleitet wurde das durch eine Mütterberatung sowie eine Stillkampagne. Danach entspannte sich die Situation der Säuglingssterblichkeit deutlich, zeitgleich wurde der Mutterschutz eingeführt.
„Bis Ende der 1920-er Jahre firmierte Mönchengladbach als soziale Stadt“, bemerkt Boland und erwähnt dabei, dass auch die damaligen Missstände in den Arbeiterwohnungen behoben wurden, wo Vater, Mutter und Kind in einem Bett schliefen. Auch ein fahrbarer Mittagstisch gehörte zu den unternehmerischen Initiativen, die für die Genesung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entscheidend waren. „Dieses enorm hohe Selbsthilfepotential aus der Bürgerschaft, um bestimmte Probleme anzugehen, ist ein unverkennbares Merkmal der Mönchengladbacher und Rheydter Geschichte“, fügt Karl Boland hinzu. Es brauche einfach Menschen, die über ihren Tellerrand gucken und sich engagieren, wozu ohne Zweifel Unternehmer Franz Brandts gehörte wie auch das Gladbacher Unternehmerpaar Josef und Hilde Wilberz, die – auch nach ihrem Tod – über ihre gleichnamige Stiftung bis heute Gutes tun für Mensch und Tier.


„Mönchengladbach anders sehen“, das werden Interessierte der neuen VHS-Themenreihe der Geschichtswerkstatt auf jeden Fall, freut sich Boland und verweist dabei auch auf das aktuelle Buch „Mönchengladbach anders sehen“. Auf 160 Seiten haben die beiden mit der Künstlerin Hanna von Dahlen ein Fotobuch realisiert, das ungewohnte Perspektiven, vergangene und einige bislang übersehene Kunstwerke abbildet. „Vielleicht sogar ein Kunstwerk, über das der eine oder die andere schon einmal gelaufen ist“, verspricht Karl Boland.

Die “Geschichtswerkstatt” beschäftigt sich seit den 1980-er Jahren mit Themen aus der lokalen Zeitgeschichte Mönchengladbachs und Rheydts. Sie werden präsentiert in Vorträgen, Stadtrundfahrten, Ausstellungen und Buchpublikationen. Die Themen kommen aus dem Alltag der Menschen: So wird darauf geschaut, wie unterschiedlich die historischen Ereignisse die Menschen betroffen haben, wie verschiedene Gruppen miteinander interagiert haben (oder auch nicht) und wie unterschiedlich die Gladbacher und die Rheydter mit bestimmten Herausforderungen in der Geschichte umgegangen sind.

Nach einem Impuls-Vortrag wird es auch Zeit und Gelegenheit geben, anhand von historischem Material, selbst in die historische Heimatgeschichte einzusteigen. Erleben Sie die “Geschichtswerkstatt” und fünf ihrer Themen:

1. Die Tuberkulose als die Krankheit der “Minderbemittelten” (nicht nur) in der Gladbach-Rheydter Textilarbeiter*innenschaft

2. Textilindustrie-Architektur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Mönchengladbach und Rheydt

3. Vom Niedergang der einstmals im Gladbach-Rheydter Industriebezirk dominierenden Textilindustrie

4. Der Gladbacher Tuchfabrikant Franz Brandts (1836-1914) als sozialengagierter Unternehmer und politisierender Katholik

5. Wanlo soll leben! – Der Kampf gegen den Braunkohlenabbau am Südrand der Stadt zum Erhalt von Wanlo

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